Weltbekannt ist sie, die Friedenstaube. Von frühen biblischen und anderen religiösen Konnotationen einmal abgesehen, gilt sie spätestens seit April 1949 als das Symbol für – der Name sagt es – Frieden. Damals fand in Paris der erste „Weltkongress der Kämpfer für den Frieden“ – später Weltfriedenskongress – statt. Auf der Suche nach einem passenden Bild für das Tagungsplakat besuchte der Dichter und Kommunist Louis Aragon seinen Freund und Mitstreiter Pablo Picasso in dessen Atelier, wo er die kleine realistische lithographische Darstellung „Die Taube“ so schön fand, dass sie von dort auf das Plakat „flog“.
Picasso liebte und malte Tauben schon seit seinen jungen Jahren; er hielt sie zwar für habgierig und streitsüchtig, aber doch auch für schwach und verletzlich. Fortan schuf er für nachfolgende Weltfriedenskongresse immer wieder neue Variationen der Friedenstaube, dem Symbol für Schutzbedürftigkeit, für die Suche nach Sicherheit. Bekannter als die „erste“ von 1949 ist die 1961 mit wenigen Strichen geschaffene Farblithographie der Taube mit einem Ölzweig im Schnabel.
Doch war es nicht seine Friedenstaube, die zum wohl bekanntesten Symbol der Friedensbewegungen wie auch des KSZE-Prozesses (Helsinki 1975) wurde; was vermutlich auch an Picassos Engagement für den Weltfriedensrat und seine Konferenzen lag, die von westlichen Mächten zur Zeit des Kalten Krieges als vom „kommunistischen“ Lager dominiert beargwöhnt wurden. Die weiße Taube auf blauem Grund, deren schwungvoll verdrehter linker und ein wenig lädierter rechter Flügel (oder umgekehrt, je nach Perspektive) sie in die Luft tragen, sie wurde 1974 vom finnischen Grafiker Mika Launis 1974 entworfen.
Sie ist es auch, die seit Februar 2022 auf allen Friedensdemonstrationen allgegenwärtig ist – Picassos Paloma aber sind natürlich ebenfalls zu sehen.
Mein Interesse an der Geschichte der Friedenstaube(n) hat mit einem anderen Anti-Kriegssymbol zu tun, das angesichts unserer katastrophalen Gegenwart wieder auf den Straßen und in den Medien in Japan aufgetaucht ist: die Kalligraphie KOROSUNA (siehe z.B. in diesem Aufruf zu einer Protestaktion am 4. November 2023 vor der israelischen Botschaft in Tōkyō). Sie war für die Friedensbewegungen im Nachkriegsjapan von großer Bedeutung.
Diesem Symbol ist zu wünschen, dass es weit über sein Ursprungsland hinaus bekannt wird. Dazu soll dieser Text beitragen, der einen kleinen historischen Überblick darüber gibt, wie es entstanden und immer wieder aktualisiert und in seiner Bedeutung erweitert worden ist – werden musste. Der Kalligraphie ist zu wünschen, dass auch sie den Weg auf unsere Straßen, in unseren Alltag findet – solange es eben notwendig ist, sich gegen jeglichen Krieg, für Frieden in der Welt zu engagieren. Das Zeug dafür hat KOROSUNA allemal: aus künstlerisch-ästhetischer Perspektive – gleichfalls ein Kunstwerk – wie auch seiner bereits weit über ein halbes Jahrhundert währenden politischen Geschichte wegen.
KOROSUNA. Kreiert wurde diese aus drei Zeichen bestehende Kalligraphie 1967 vom japanischen Künstler Okamoto Tarō (1911-1996). Über dessen faszinierendes Leben und Schaffen hier nur so viel: Von 1930 bis 1940 weilte er ein Jahrzehnt lang in Paris, wo er u.a. auch Picasso traf und sich direkt mit diesem und anderen avantgardistischen Intellektuellen austauschte.
KOROSUNA. Das linksseitige, irgendwie dornig anmutende chinesische Zeichen殺 – sino-japanisch meist satsu und auf Japanisch koro(su) gelesen – bedeutet „töten“. Die beiden auf dem letzten der insgesamt 10 kanji-Striche scheinbar nach rechts hinabrutschenden Zeichen sind die grammatikalischen hiragana-Silben SUす und NAな. Von denen fungiert das letztere, also NA, prohibitiv, d.h. es verbietet das Töten: „Töte(t) nicht“.
KOROSUNA „Do not Kill“. Beides – die Umschrift des japanischsprachigen Slogans in lateinische Buchstaben und seine englische Bedeutung – sind kleingedruckt unter dem hiragana-NA der Kalligraphie zu lesen, die am 3. April 1967 ganz bestimmt den Blick aller Leserinnen und Leser der US-amerikanischen Zeitung „The Washington Post“ fing, als sie deren Seite A 20 aufschlugen. Nach der Bedeutung des in der oberen Hälfte Abgedruckten suchend, konnten sie unter der großbuchstabigen Aufforderung STOP THE KILLING! STOP THE VIETNAM WAR! dann erfahren, was es mit dem Aufruf auf sich hat, und von wem er initiiert worden war.
Unterschrieben ist der Appell von 13 japanischen Intellektuellen – fast schon ein „Who is Who“ der damaligen politisch engagierten geistigen Elite, darunter natürlich auch Okamoto. (Mit dem Philosophen und Kritiker Kuno Osamu (1910-1999), einer der Initiatoren, haben meine einstige Kollegin an der Tōkyō-Universität, die Philosophin Kitagawa Sakiko (1952-2011), und ich vor fast 30 Jahren ein Gespräch geführt, dessen Übersetzung ins Deutsche in der Deutschen Zeitschrift für Philosophie (1996/6) erschienen ist.) Sie repräsentieren die einflussreiche friedensbewegte Organisation Beheiren, eine Abkürzung für Betonamu ni heiwa o shimin rengō: Bürgerkomitee für Frieden in Vietnam. Dass sie sich an die amerikanische Öffentlichkeit wandten, hatte nicht nur mit dem sich in jenen Jahren weltweit ausbreitenden „1968er“ Zeitgeist zu tun, befeuert u.a. vom immer brutaler geführten Krieg gegen Vietnam und den Protesten dagegen vor allem auch in den USA selbst, mit denen Beheiren sich solidarisierte. Das war auch der Tatsache geschuldet, dass die US-amerikanischen Militärstützpunkte in Japan – und das heißt vor allem: diejenigen auf der Inselkette Okinawa, die damals noch (bis 1972) unter amerikanischer Verwaltung stand – ein Drehkreuz für die Kriegseinsätze in Vietnam waren (und es bis heute für alle kriegerischen Auseinandersetzungen in der Region sind). Und: dass das sogenannte „Wirtschaftswunder“ in den 1960ern sich zu einem großen Teil eben diesem Krieg mitverdankte, der die japanische Wirtschaft ankurbelte – wie schon zuvor der Koreakrieg (1950-1953).
KOROSUNA hat sich ins Protest- und Sozialbewegungsgedächtnis der japanischen Gesellschaft eingeschrieben, auch wenn den politisch „heißen“ 1960ern eine Zeit folgte, in der zwar lokal durchaus und mitunter auch heftig protestiert wurde. Zu landesweiten und massenhaften Mobilisierungen hingegen kam es danach kaum mehr. Es heißt, daran sei die Radikalisierung der Studentenbewegung 1968/69 bis hin zu den Gewaltexzessen den japanischen RAF-Faktionen im In- und Ausland seit den 1970er Jahren – da wurde getötet! – Schuld gewesen. Sie hätten die „normalen Japaner“ das Fürchten vorm Protestieren und Widerständischen gelehrt, oder wenigstens: ihnen die Lust daran genommen. Eine wohl zu simple Erklärung (der nicht selten das vollends unterbelichtete Stereotyp hinzugefügt wird, dass „die Japaner“ zudem ja ohnehin eher harmoniebedürftig seien und es daher nicht mögen, Konflikte offen auszutragen). Okamotos politisches Kunstwerk aber überlebte diese Jahrzehnte. Nach dem „9/11“-Ereignis 2001 tauchte KOROSUNA plötzlich wieder auf der Straße auf. Und zwar zum einen in (auch personeller) Anknüpfung an die einstige Beheiren-Anti-Vietnamkrieg-Proteste durch die bürgerbewegte Gruppe Shimin no iken30 no kai (Verein „30 von Bürgern vertretene Auffassungen“). Angesichts des von der US-amerikanischen Bush-Regierung erklärten „Krieges gegen den Terror“ reihte sie sich in die auch in Japan wieder erstarkende Friedensbewegung ein. Auf deren Höhepunkt im Jahr 2003 („Dritter Golfkrieg“ gegen den Irak, der mit dem Sturz von Saddam Hussein endete) erweiterte sie den Slogan KOROSUNA: „Do not Kill. Anywhere, Anytime“, und sie sorgte dafür, dass er als Plakette (badge) nicht nur auf Demonstrationen, sondern – angesteckt an Kleidungsstücken, Taschen etc. – auch im Alltag mitgeführt wurde und so die Haltung der sie Tragenden sichtbar machte.
Der Bürger30-Verein (gegründet bereits 1989) ist nach wie vor aktiv. Im November verkündete er auf seiner Homepage, dass als Reaktion auf den Krieg in Gaza ab sofort KOROSUNA, wie es auf der abgebildeten Plakette erscheint, wieder im Vereinslogo erscheint, und auch die Plakette selbst werde wieder über die Homepage vertrieben. (In zwei Größen kann sie für 220 bzw. 250 Yen, also ca. 1,40 bzw. 1,60 €, erworben werden.) Die Begründung, warum beides offensichtlich längere Zeit ausgesetzt worden war, überrascht: Einige seien der Meinung gewesen, die KOROSUNA-Zeichen seien furchteinflößend, bedrohlich (kowai). In einer kurzen Online-Selbstvorstellung werden übrigens eindringlich vor allem auch junge Leute eingeladen, doch den (2011 etwas mehr als 2000 Mitglieder zählenden) Verein aufzufrischen. Konstatiert wird hier somit etwas als Problem, vor dem Japan allgemein stehe: Überalterung (das Wort kōreika fällt explizit. Hier sei die Frage erlaubt, warum eine „alternde“ Gesellschaft überhaupt als problematisch gilt; oder besser: für wen sie es ist. Konfuzius jedenfalls preist das Alter; der Weisheit wegen. Vom Marketing sind die Alten ja übrigens längst als silver market entdeckt worden.
KOROSUNA wieder-holen. Ich erwähne die Altersfrage hier deshalb, weil es 2003 noch andere gab, die KOROSUNA für sich, und das heißt eben auch: anders entdeckten – eine jüngere Generation, die in den 1960er Jahren Geborenen. Leute wie der Kunsthistoriker Sawaragi Noi (*1962) und der Kulturanthropologe und Künstler Oda Masanori (*1966, auch unter dem Namen illcommonz aktiv) initiierten das Projekt KOROSUNA und politisierten es, indem sie es – als Aktivisten – in die erwähnte Antikriegsbewegung zum Beginn des neuen Jahrtausends integrierten. Dabei griffen sie auch auf Okamotos Kalligraphie zurück. Auch sie legten Wert auf ein möglichst breites, nicht partei- oder faktionsgebundenes Spektrum von Demonstrations- und Aktionsteilnehmenden. Neu ist nun aber: Die Aufrufe erfolgten über (damals noch „jungfräulich“ rundum positiv bejubelte) Internetplattformen und social media; und im Zusammenhang mit den globalisierungskritischen Protesten (1999 Seattle, 2001 Genua, 2008 Tōyako auf Hokkaidō) war eine neue Demo-Form entstanden: die Sounddemo, die rasch auch auf Straßen und Plätzen in japanischen Städten Verbreitung fand. Auf ihnen war das Okamoto-Symbol nun inmitten von Rap- und anderen Musikzügen, Performances zu sehen. Und so klingen auch die KO-RO-SU-NA-Sprechchöre anders, wie in diesem (etwa 7-minütigen) Videoclip von einer Demo am 21. März 2003 eindrucksvoll zu sehen ist. Von „Überalterung“ keine Spur. Eine neue Art des Wieder-Holens von KOROSUNA war entstanden – im durchaus ambivalenten Sinn von Art als Spezifik und als art, die (ähnlich wie Picasso und die Friedenstaube/n) auch neue Versionen des Originals hervorbrachte, es ästhetisch und diskursiv re-cycelte, re-produzierte.
Journal Bitsuju techō Juni 2003, S. 50
213 KB. Siehe auch hier zu den einzelnen KOROSUNA-Demo-Grafiken.
KOROSUNA wieder wieder-holen. In den 2010er Jahren waren es dann die noch Jüngeren, die sich den Slogan zu eigen machten und Okamoto fortsetzten. 2013 tauchte die Kalligraphie mitten in Tōkyō auf – als Graffiti an einer Mauer, nachgebildet von der für ihre Tabu brechenden Performanzen bekannte sechsköpfigen Künstlergruppe Chim↑Pom (gegründet 2005, seit 2022: Chim↑Pom from Snappa!).
Die Gruppe hatte bereits im April 2011, also kurz nach dem nuklearen Super-GAU, in einer Guerilla-Aktion das im Bahnhof Shibuya, ein Subzentrum in Tōkyō, angebrachte riesige Okamoto Tarō-Wandgemälde „Mythos des Morgen“ um ein eigenes kleines Kunstwerk „ergänzt“. Während Okamoto einst die zerstörerische Kraft explodierender Atombomben thematisiert hatte, zeigte das von Chim↑Pom am rechten unteren Rand des Mural angebrachte Bild das havarierte AKW: zwei schwarze Atompilz-förmige (und Totenkopf-ähnliche) Rauchwolken steigen aus den explodierten Reaktoren auf. Welch eine Symbolik! Die Künstler hatten ihren Coup gefilmt und das Video ins Netz gestellt, wo es noch immer aufgerufen werden kann.
Nur wenige Stunden später wurde ihr Bild von der Polizei entfernt, doch konnte es dann 2013 in einer Okamoto- Chim↑Pom-Colaboration-Ausstellung ebenso wie das Mauer-Graffiti betrachtet werden. Die Gruppe erweiterte Do not Kill also um die atomare Dimension der ebenfalls tötenden sogenannten „friedlichen Nutzung“ von Kernenergie.
Ende Juni 2015: Beginn wochenlanger, landesweiter Massendemonstrationen gegen ein von der rechtskonservativen Abe (Shinzō)-Regierung geplantes Gesetzespaket, das „mehr Sicherheit“ bringen und Japan – verfassungsmäßig dem Frieden verpflichtet – auch außerhalb seiner Landegrenzen „kriegstüchtiger“ machen soll (und das letztlich vom Parlament verabschiedet wurde). An den immer mehr anschwellenden Antikriegsgesetz-Protesten und Demonstrationen nahmen am 30. August vor dem Parlamentsgebäude in Tōkyō mehr als 120.000 Menschen teil – landesweit wurden in mehr als 200 Städten über 300.000 gezählt. Maßgeblich beteiligt an der Organisation der Aktionen war SEALDs (Students Emergency Action for Liberal Democracy), also eine aus späten Teenies und Anfang-Zwanzigjährigen bestehende Aktionsgruppe. Auch hier war der Appell KOROSUNA lautstark zu hören, exemplarisch seien einige Sätze aus der Rede einer damals 21-jährigen Studentin aus Ōsaka auf der am 21. Juni durch Kyōto ziehenden Demo angeführt. Es gäbe im Netz Leute, die, von Angst besessen, „Töte! Bevor Du getötet wirst!“ (Korose! Korosareru mae-ni!) skandieren. Damit aber solle nun Schluss sein. „Lasst uns hier ein neues, der Friedensverfassung entspringendes Prinzip des Gewährens von Sicherheit aufstellen: ‚Töte nicht, um nicht getötet zu werden! KOROSUNA, korosarenai tameni!‘“
(In diesem Videoclip von der Kyōto-Demo ist kurz, zwischen min 14:35 und 14:37 einer meiner ehemaligen Leipziger Japanologie-Studenten im Demonstrationszug zu entdecken.)
Diese Umkehrung der Logik des Tötens bringt in der Tat das Wesen des Artikels 9 der japanischen Nachkriegsverfassung auf den Punkt: Für alle Zeiten auf Krieg als souveränes Recht einer Nation und auf Androhung und Ausübung von Gewalt als Mittel zur Beilegung internationaler Streitigkeiten zu verzichten; und daher auch keine Land-, See- und Luftstreitkräfte zu unterhalten; das Recht des Staates auf Kriegführung nicht anzuerkennen. Einst (1947) war das ein Angebot Japans an die Welt, eine Utopie – längst ist der Artikel ausgehöhlt, Japans Mächtige auf dem Weg, die Welt mit in einen dystopischen Ort zu verwandeln. Ist am Ende dieses Jahres 2023 auf eine bessere Zukunft zu hoffen, gar auf ein Wunder? Tut mir leid, ich sehe in der Zeitenwende eher einen Schritt zum Zeitenende (Günther Anders). Nicht einmal auf das Wunder der Weihnacht im Jahr 1914 kann für die derzeitigen zahlreichen Kriegsschauplätze gehofft werden. Damals verließen an der Westfront englische Soldaten – vom sakralen Gesang eines deutschen Offiziers ergriffen – ihren Schützengraben, was dann auch die Deutschen taten, beide Seiten gingen ohne zu schießen aufeinander zu. Für wenige Stunden stoppte die Korose! Korosareru mae ni!-Logik zugunsten von KOROSUNA, korosarenai tameni.
Dennoch bleibt nichts anderes, als wissensbasiert mit Vernunft und Verstand den Blick für die Gegenwart mit all ihren Konflikten – also für das, was ist – zu schärfen, uns unserer Symbole und ihrer Kraft zu erinnern und sie im rechten Moment für die richtige Sache eingreifend zu mobilisieren. So, wie es mit der Kalligraphie KOROSUNA geschehen ist und geschieht.
Detailliert bleibt deren Geschichte allerdings noch zu schreiben, (m)ein Appell an Japan-Spezialistinnen und Spezialisten…