Am 07. Dezember 2024 ist Professor i. R. Dr. phil. habil. Siegfried Hoyer, der ehemalige Leipziger Historiker der frühen Neuzeit, im hohen Alter von 96 Jahren gestorben.
Prof. Dr. Siegfried Hoyer gestorben
Siegfried Hoyer wurde am 14. Juni 1928 in Dresden geboren, wo er zunächst die Volksschule, seit 1938 die Oberschule Dresden-Plauen besuchte. Das Kriegsende mit der Zerstörung Dresdens im Feuersturm des 13. Februar 1945 hatte er als junger Mann miterlebt. Die Eindrücke von den Verheerungen seiner Heimatstadt haben ihn zeitlebens geprägt und seine Haltung zu politisch-gesellschaftlichen Grundfragen von Krieg und Frieden beeinflusst. Nach dem Abitur 1947 schlug er zunächst eine bibliothekarische Laufbahn ein, die ihm an der Sächsischen Landesbibliothek in Dresden 1949/50 eine erste Anstellung einbrachte.
1950 begann Siegfried Hoyer an der Universität Leipzig das Studium der Geschichte und Romanistik, das er 1954 mit dem Staatsexamen im Hauptfach Geschichte abschloss. Es schloss sich eine Assistentur mit Lehrverpflichtungen am Institut für Geschichte des deutschen Volkes an der seit 1953 neu benannten Karl-Marx-Universität Leipzig an, an der er 1960 mit der Studie „Der Auszug der deutschen Studenten aus Prag und die Gründung der Universität Leipzig 1409“, betreut von Ernst Werner und Ernst Engelberg, promoviert wurde. Das Interesse an der universitätsgeschichtlichen Materie hat ihn danach bis zu seinem Lebensende nicht mehr losgelassen.
Die Tätigkeit als Oberassistent am Institut für deutsche Geschichte (in der Abteilung von den Anfängen bis 1789) führte ihn nach 1961 zu einer thematischen Verlagerung seines Forschungsschwerpunktes vom 15. auf das frühe 16. Jahrhundert, die eng mit dem Beginn der Amtszeit des neuen Instituts-Direktors Max Steinmetz ein Jahr zuvor zusammenhing. In Leipzig begründete Steinmetz mit dem programmatisch postulierten Theorem der „frühbürgerlichen Revolution“ einen konzeptionell neu vermessenen, nicht unumstrittenen Arbeitsbereich, in dem es den Initiatoren schnell gelang, die in der DDR vertretene Deutung des krisenhaften Zusammenhangs von Reformation und Bauernkrieg im Sinne der marxistischen Geschichtsdoktrin forschungsstrategisch mit einer progressiven neuen Begrifflichkeit zu fokussieren. Hoyer arbeitete an der Seite seines Mentors Steinmetz engagiert mit eigenen Themen in dem neuen Leipziger Forschungsschwerpunkt mit, der schon bald in der Berliner Akademie der Wissenschaften der DDR und an der Humboldt-Universität ebenso partnerschaftliche wie konkurrierende institutionelle Mitstreiter im Geiste fand. Adolf Laube und Günter Vogler seien hier besonders genannt.
Die zusammen mit Manfred Bensing verfasste Schrift Hoyers von 1965 „Der deutsche Bauernkrieg 1524 – 1526“ (in 5. Auflage 1985 erschienen und in mehrere Sprachen übersetzt) lehnte sich in den Grundzügen eng an die ideologische Thesenbildung von Steinmetz an. 1975 folgten das Buch Hoyers über „Das Militärwesen im deutschen Bauernkrieg 1524 – 1526“, daneben eine Reihe von Aufsätzen und Tagungsberichten, die sich mit konfliktträchtigen Häresiefällen, mit dem Kontext von Reformation und Bauernkrieg sowie mit der rebellischen Rolle von Thomas Müntzer und der mangelnden Unterstützung des „revolutionären“ Umbruchs durch das politisch zaghaft agierende Bürgertum befassten. Es war der mehrfach belegte methodische Anspruch Hoyers, die gesellschaftlichen Krisen der weichenstellenden 1520er Jahre nicht allein monokausal-doktrinär zu betrachten, sondern mit belastbarer Plausibilität die vor allem quellenorientierte Beweis- und Belegdichte seiner Erkenntnisse und Bewertungen stärker ins Licht zu rücken.
Der Begriffsrahmen der frühbürgerlichen Revolution blieb als gemeinsamer Diskussions- und Resonanzraum solitär profilbildend: In ihm beschrieb Hoyer detailliert die Vielzahl der gesellschaftlichen Widersprüche in ihrer Summe, aber er war mithin derjenige, nicht allein, aber besonders prononciert, der in differenzierten Schritten unter Rekurs auf die Quellen eine vorsichtige Revision des Revolutionstheorems, eine Gewichtsverlagerung vom Bauernkrieg hin zur Reformation als dem eigentlichen Ereignis bürgerlichen Fortschrittswillens forderte. So waren die 70er und besonders die 80er Jahre von der moderat fortschreitenden Annäherung an die nicht marxistische, westliche Forschung zum Reformationsjahrhundert gekennzeichnet, besonders an diejenige, die in ihrer Expertise ein ausgeprägtes Interesse an sozialgeschichtlichen Wandlungsprozessen der Vormoderne an den Tag legte.
Die 1966 von Hoyer vorgelegte Habilitationsschrift über „Häresien zwischen Hus und Luther. Ein Beitrag zur ideologischen Vorbereitung der frühbürgerlichen Revolution in Deutschland“, die von Max Steinmetz, Ernst Werner und Gerhard Zschäbitz begutachtet wurde, blieb bis heute unveröffentlicht. Aus der Schrift lassen sich jedoch die für Hoyer maßgeblichen Narrative ableiten, denen er nach seiner Berufung 1977 als Nachfolger von Steinmetz auf die ordentliche Professur für ältere deutsche Geschichte seine Aufmerksamkeit widmete: den spätmittelalterlichen konfliktbeladenen Häresiefällen, dem transformativen Prozess der Reformation und seinen sozialen Folgen sowie der „revolutionären“ Eruption der ländlich-agrarischen Gesellschaft im deutschen Bauernkrieg. Insbesondere die Rolle des „politischen“ Theologen und leidenschaftlichen Prädikanten Thomas Müntzer als Antipode Martin Luthers stand dabei im Mittelpunkt. Als reife Frucht seiner immensen Quellenkenntnis wirkte Hoyer zusammen mit dem Landeshistoriker Wieland Held an Band 3 der Müntzer-Werkausgabe mit, die 2004 in Verantwortung der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig erschien. Seine Mitgliedschaft in der Historischen Kommission der Akademie (seit 1984) prädestinierte ihn neben seiner historisch-philologischen Fachkenntnis geradezu zur Mitarbeit an dem zentralen Projekt der Müntzer-Edition.
Im Jubiläumsjahr des Bauernkriegs 1975 war Hoyer als Mitorganisator und Referent ebenso präsent wie als Mitglied des staatlichen Luther-Komitees und wenig später des Müntzer-Komitees bei den Vorbereitungen für die großen Tagungen 1983 und 1988/89. Die Tagungsdichte um das Lutherjahr 1983 führte nicht nur zu einer historischen Aufwertung des Reformators Martin Luther im Geschichtsbild der DDR, der in seiner Bedeutung lange Zeit hinter Müntzer zurückstand, sondern auch zu einer Vielzahl von wissenschaftlichen Kontakten mit Kollegen aus dem europäisch-angelsächsischen Bereich, die bei allen weltanschaulichen Unterschieden verstärkt zu Foren des Dialogs und zu diskursiven Annäherungen der Standpunkte im Wege historischer Faktenrekonstruktion führte.
Neben der frühbürgerlichen Revolutionsforschung hat Siegfried Hoyer seinen zweiten Forschungsschwerpunkt, der ursprünglich sein erster war, nie aus dem Auge verloren. Sein Interesse an der Leipziger Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte artikulierte sich 1984 erneut in dem unter seiner Leitung entstandenen, chronologisch angelegten Jubiläumsband „Alma Mater Lipsiensis. Geschichte der Karl-Marx-Universität Leipzig“, in dem es ihm gelang, Säkular- und Kirchenhistoriker mit einschlägigen Beiträgen in einem Autorenkollektiv zusammenzuführen. In seinem eigenen Beitrag über die scholastische Universität Leipzig bis 1480 konnte er an die Thesen seiner Dissertation anschließen. Mehr als ein Vierteljahrhundert später – Hoyer war schon Emeritus – schaffte er es mit bewundernswerter Ausdauer, mit seinem Buch „Kleine Geschichte der Leipziger Studentenschaft 1409 – 1989“, erschienen 2010 im hiesigen Universitätsverlag, ein stattliches Alterswerk zum 600-jährigen Jubiläum seiner Universität vorzulegen. Damit zog der damals bereits 82-jährige Autor verdientermaßen gebührende Aufmerksamkeit auf sich.
In der schwierigen Zeit des Umbruchs und Neuaufbaus nach der Friedlichen Revolution 1989 war Hoyer als kommissarischer Leiter der Sektion bzw. des Fachbereichs Geschichte in besonderer Weise mit einer Herausforderung konfrontiert, die er mit Augenmaß, Realitätssinn und nüchternem Pragmatismus bestand. So wirkte er bis 1992 in der von dem Heidelberger Mediävisten Jürgen Miethke geleiteten Strukturkommission mit, die im neuen Geist die entscheidenden Weichen für die Gründung des Historischen Seminars an der Universität stellte. Fünf ehemalige Leipziger Sektionsangehörige wurden 1992 zu Professoren neuen Rechts berufen, darunter Siegfried Hoyer auf den neu geschaffenen Lehrstuhl für Geschichte der frühen Neuzeit. Ein Jahr später, am 01. Juli 1993 ging er altersbedingt in die Emeritierung.
Seinen über 30 Jahre dauernden Ruhestand, frei von dienstlichen Pflichten und Terminen, genoss er auf vielfältigen Reisen im In- und Ausland, bei seinen geliebten Bergwanderungen und natürlich an seinem heimischen Schreibtisch, an dem er weiterhin seinen wissenschaftlichen Interessen an der sächsischen Landes- und Universitätsgeschichte sowie an der Leipziger Stadtgeschichte insbesondere des 15. und 16. Jahrhunderts nachging. Seine Beiträge in den stadt- und landesgeschichtlichen Periodika zeugen von dieser anhaltenden gelehrten Tätigkeit. In der Leipziger Bibliotheks- und Archivlandschaft blieb er im Wochenrhythmus weiter präsent, ebenso im Historischen Seminar und in der Historischen Kommission der Akademie der Wissenschaften, deren Tagungs- und Vortragsveranstaltungen er bis ins vorgerückte Alter besuchte. Von der kleinen Festgabe seiner Kollegen und Schüler zu seinem 70. Geburtstag 1998 hat er sich in hohem Maße geehrt gefühlt. Dem Leipziger Geschichtsverein ist er lange Zeit als aktives Beiratsmitglied und anregender Berater verbunden geblieben. Erst als im hohen Alter die Kräfte langsam nachließen, begann der Rückzug in sein häusliches Domizil im Leipziger Ortsteil Gohlis, am Ende in die Pflegestation eines Seniorenheims im sachsen-anhaltinischen Benndorf nahe bei Lutherstadt Eisleben in der Nähe seines ältesten Sohnes. Dort ist er vor wenigen Tagen im Kreise seiner Angehörigen verschieden. Seine nach außen getragene optimistische Grundhaltung und sein ihm eigenes unverkennbares Lächeln auf den Lippen bleiben neben seinen Schriften in Erinnerung.
Das Historische Seminar der Universität Leipzig betrauert den Tod des akademischen Lehrers, Forschers und Kollegen Siegfried Hoyer und wird ihm ein ehrendes Andenken bewahren. Seiner Familie gilt unser aufrichtiges Mitgefühl.
Ein ausführlicher Nachruf erscheint demnächst im Neuen Archiv für sächsische Geschichte.
Manfred Rudersdorf, Emeritus
Historisches Seminar der Universität Leipzig