Seit dem „cultural turn“ der 1990er Jahre wird Musik verstärkt aus kulturhistorischen Blickwinkeln
erforscht. Im Zentrum stehen hier, im Rahmen des Forschungsschwerpunkts „Globale und
transregionale Studien“ der Uni Leipzig, internationale Transferprozesse und ihre spannungsreichen
Wechselwirkungen mit Identitätskonstruktionen: auf nationaler Ebene ebenso wie in der
„Musikstadt Leipzig“. Methodische Impulse liefern Kulturtransfer- und Verflechtungsforschung.
Auch Funktionen von Musik in unterschiedlichen politischen Systemen wie etwa Diktaturen des
20. Jahrhunderts werden untersucht.

Projekte

Die von den Pariser Germanisten Michel Espagne und Michael Werner begründete Kulturtransferforschung („recherche sur les transferts culturels“) untersucht auf interdisziplinärer Basis den Austausch von Menschen, materiellen Gütern, Ideen, Kunstwerken, Praktiken sowie institutionellen Strukturen zwischen verschiedenen Kulturräumen. Dabei lenkt sie den Fokus auf die Bedürfnisse und Motivationen der aufnehmenden Kultur, auf AkteurInnen, Wege und Medien des Transfers, auf strukturelle und funktionale Modifikationen der transferierten Konzepte sowie auf die über den Transfer geführten Diskurse. Dieser in der Musikwissenschaft relativ spät aufgegriffene Ansatz eröffnet eine neue Perspektive auf die Musikgeschichte, die sowohl stereotype Vorstellungen von exklusiv nationalen Musiktraditionen als auch das Klischee von ‚der Musik‘ als einer universal verständlichen ‚Sprache‘ dekonstruiert und stattdessen die vielfältigen überregionalen und internationalen Verflechtungen als entscheidende Impulse der soziokulturellen und stilistisch-ästhetischen Entwicklung von Musik offenlegt.

Der Ansatz ist auf musikbezogene Transfers sowohl innerhalb von Europa als auch darüber hinaus anwendbar. Besondere Schwerpunkte des Leipziger Lehrstuhls liegen auf folgenden Räumen:

  1. Deutsch-französische Musikbeziehungen: von der barocken „französischen Ouvertüre“ bis zum Darmstädter Serialismus;
  2. Transfers und Verflechtungen zwischen Ost- und Mitteleuropa (insbesondere mit Polen und Russland);
  3. Transfergeschichten innerhalb des deutschsprachigen Musikkulturraums (die Rolle der Musikstadt Leipzig bei der Kanonisierung der Wiener Klassik; DDR–BRD-Verflechtungen inkl. ihrer Folgen nach der politischen Wende)
  4. Interkontinentale Musiktransfers zwischen Europa und anderen Regionen, mit besonderer Berücksichtigung der deutsch-französischen Rivalität in Japan im 20. Jahrhundert (siehe DFG-Projekt Dr. Minari Bochmann).“

Publikationen (Auswahl):

Keym, Stefan: Enzyklopädie-Artikel „Musik und Kulturtransfers“, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart MGG Online, hrsg. von Laurenz Lütteken (2020; grundlegende Einführung in Theorie und Geschichte des Themas).

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Ders. und Jean-Christophe Branger (Hrsg.): Les Transferts franco-allemands dans la vie et la création musicales de 1871 à 1914 (= Revue germanique internationale 36), Paris: CNRS-éditions 2022, 205 S.

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Ders. und Anna Fortunova (Hrsg.), Eastern European Emigrants and the Internationalisation of 20th-Century Music Concepts, Hildesheim: Georg Olms Verlag 2022, 248 S.

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Ders.: The Role of Intercultural Transfers in the Invention of ‘Classical Music’ in Early Nineteenth-Century Leipzig, in: Intercultural Transfers and Processes of Spatialization, hrsg. von Michel Espagne und Matthias Middell, Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2022, S. 17-36:

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Ders. und Inga Mai Groote (Hrsg.): Russische Musik in Westeuropa bis 1917: Ideen – Funktionen – Transfers, München: edition text & krtitik 2018, 326 S.

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Ders.: Symphonie-Kulturtransfer. Untersuchungen zum Studienaufenthalt polnischer Komponisten in Deutschland und zu ihrer Auseinandersetzung mit der symphonischen Tradition 1867-1918, Hildesheim: Georg Olms Verlag 2010, 672 S.

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Ders.: Aneignung und Abgrenzung. Frankreich und ‚die italienische Oper‘ im 17. und frühen18. Jahrhundert aus Sicht der Kulturtransferforschung, in: Musik und Vergnügen am Hohen Ufer. Fest- und Kulturtransfer zwischen Hannover und Venedig in der Frühen Neuzeit, hrsg. von Sabine Meine und Nicole K. Strohmann, Regensburg: Schnell & Steiner 2016, S. 219–234.

Ders.: Musikkulturtransfer und Politisierung in der Mitte des 20. Jahrhunderts. Von der Reihentechnik bis zu Jazz und Rock’n’Roll, in: Entgrenzte Welt? Musik und Kulturtransfer, hrsg. von Jin-Ah Kim und Nepomuk Riva, Berlin: Ries & Erler 2014, S. 151–184.

Die internationale Arbeitsgemeinschaft für die Musikgeschichte in Mittel- und Osteuropa an der Universität Leipzig dient der Intensivierung des internationalen Wissenschaftsdialogs zwischen Forschenden, die sich mit der Musikgeschichte der genannten Regionen beschäftigen (einschließlich der vielfältigen Verflechtungen zwischen einzelnen regionalen und nationalen Musikkulturen).

Die Arbeitsgemeinschaft wurde Mitte der 1990er Jahre von Prof. Dr. Helmut Loos an der TU Chemnitz gegründet und ist seit 2002 am Institut für Musikwissenschaft der Universität Leipzig angesiedelt. Ihr gehören derzeit über 140 Kolleg:innen an. Interessierte Kolleg:innen sind herzlich eingeladen zur Mitarbeit (Kontakt: hloos@uni-leipzig.de).

Die Arbeitsgemeinschaft veranstaltet internationale Konferenzen und veröffentlicht dazu Konferenzberichte sowie die Zeitschrift Mitteilungen der Arbeitsgemeinschaft (bislang 21 Bände).

Zur Arbeitsgemeinschaft gehört auch das Projekt "Musica migrans": Mittel- und Osteuropa sind ein alter Kulturraum, der durch vielfältige Beziehungen geprägt war, die durch den „Eisernen Vorhang“ gewaltsam zerrissen wurden. Insbesondere auf dem Gebiet der Musik waren die Kontakte zum deutschsprachigen Raum sehr eng. Die Intensität dieser Beziehungen ist heute selbst Fachwissenschaftlern kaum mehr bekannt, geschweige denn einer breiteren Öffentlichkeit. Das Projekt „Musica migrans“ nimmt sich der dadurch entstehenden Herausforderung an und dokumentiert im Hinblick auf Musikerbiographien die Migrationsströme in Mittel- und Osteuropa.

Eine außergewöhnliche und für den mitteleuropäischen Raum einmalige Blüteperiode erlebte Leipzig in den Jahrzehnten zwischen 1880 und 1930. Die traditionelle Hochburg des Klavier- und Blasinstrumentenbaues etablierte sich zum Zentrum für die industrielle Herstellung selbst spielender Musikinstrumente aller Art, vom Zither-Automaten bis zum Player Piano. Monatlich verließen etwa 10 000 Automaten und ungezählte Lochplatten und Notenrollen die über 100 Produktionsstätten. Begünstigt durch die Messe, aber auch durch die zahlreichen Verleger und Händler, entwickelte man Lieferketten über alle Kontinente hinweg. Letztlich beförderten die Automaten maßgeblich – wie auch Grammophone - den Transfer und die Verbreitung europäischer Musik. Dieses Phänomen bezeichnete Walter Wiora treffend als Beginn des „vierten Weltalters der Musik“ (Die vier Zeitalter der Musik, Stuttgart 1961), in dem die Musik dank technischer Neuerungen eine sprunghafte weltweite Verbreitung erfuhr.

Weitere Informationen:

Lexikon von Birgit Heise

Heise, Birgit: Leipzig als Zentrum des Musikautomatenbaus 1880 bis 1930. Habilitationsschrift, eingereicht in der MLU Halle, Philosophische Fakultät II. Altenburg 2018 (431 S., ISBN 978-3-95755-631-8).

…da hörte ich meinen Tannhäuser auf einem Leierkasten: Richard Wagners Musik auf selbstspielenden Instrumenten. CD mit booklet. Querstand Verlag Kamprad Altenburg 2017.

Dr. Minari Bochmann (DFG-Sachbeihilfe)

Das Forschungsprojekt schließt sich methodisch der von Michel Espagne und Michael Werner begründeten Kulturtransferforschung an, deren Anwendung sich bislang vornehmlich auf die europäische bzw. westliche Sphäre konzentrierte (s. a. Projekt  „Musikgeschichte als Kulturtransfergeschichte“). Das laufende Projekt untersucht die Transferprozesse europäischer Kunstmusik am Beispiel von Japan und fokussiert sich auf die Modifikationen, denen die deutsche und die französische Musik während ihrer Rezeptionsprozesse unterlagen. Die Orientierung auf die trianguläre Beziehung Deutschland–Frankreich–Japan in den Diskursen japanischer Musikpublizistik ist durch die folgenden Fakten begründet:

  1. Während sich das Japan der Meiji-Ära (1868–1912) kulturell sehr stark an Deutschland anlehnte, veränderte der Ausbruch des Ersten Weltkrieges das Verhältnis der japanischen Kulturschaffenden zur französischen Musik, da Deutschland und Japan sich bis zur Unterzeichnung des Friedensvertrages von Versailles (1919) offiziell im Kriegszustand befanden. Während die bisher unbesehen übernommene Musik der Wiener Klassik mit der traditionellen japanischen Musik kaum Berührungspunkte besaß und aus japanischer Sicht dem Alltagsleben sehr fernstand, bot die Musik Claude Debussys eine attraktive Lösung dieses Problems.
  2. Als Japan mit der Besetzung der chinesischen Mandschurei im Jahre 1931 einen imperialistischen Kurs einschlug, wurde der Diskussion über das ‚Japanische‘ in der Musik immer mehr Bedeutung beigemessen, was der Rezeption des französischen Impressionismus wegen seiner größeren Schnittmenge mit der japanischen Musik Vorteile verschaffte.
  3. Besonders auffällig ist der Spagat zwischen innen- und außenpolitischen Interessen in der Zeit, in der Japan seine Expansionspolitik praktizierte: Die moderne französische Musik zog wegen ihrer größeren Schnittmenge mit der japanischen Musik das innenpolitische Interesse auf sich, was jedoch wegen der deutsch-japanischen Bündnispolitik (1936–1945) mit den außenpolitischen Interessen in Konflikt geriet.

Das laufende Forschungsprojekt soll durch eine systematische Untersuchung der Musikperiodika von 1924 bis 1945 die identitätsbezogenen Zuschreibungen, die man mit der Musik verschiedener europäischer Länder verband, herausarbeiten, um die Verflechtungen der deutschen und französischen mit der japanischen Musik empirisch zu erschließen.

Publikationen:

Zur Rezeption deutscher Musik in der japanischen Musikpublizistik während des Pazifischen Krieges – eine Zwischenbilanz, in: Die Musikforschung 73 (2020), H. 1, S. 31–46.

Kulturelle Beziehungen zwischen Deutschland und Japan in der NS Zeit. Untersuchungen am Beispiel japanischer Musikzeitschriften, in: Musik in Konfrontation und Vermittlung. Beiträge zur Jahrestagung der Gesellschaft für Musikforschung 2018 in Osnabrück, hrsg. von Dietrich Helms, Osnabrück: epOs-Music 2020, S. 223–236.

German Music in the Japanese Press during the Nazi Era, in: The East, the West, and the In-Between in Music, hrsg. von David Vondráček, München: Allitera 2021, S. 33–50.

Die Bartók-Rezeption in Japan bis 1945, in: Archiv für Musikwissenschaft 78 (2021), H. 4, S. 296–312.

Die Arbeitsstelle "Felix Mendelssohn Bartholdy Briefausgabe" hat die kritische Edition der Briefe des Komponisten Felix Mendelssohn Bartholdy (1809–1847) erarbeitet. Die auf zwölf Bände angelegte Briefausgabe bietet neben dem textphilologischen Abdruck der Brieftexte einen kritischen Kommentar zum Verständnis des Textes, ein Personen-/Institutionenregister, je ein Register der erwähnten Werke von Felix Mendelssohn Bartholdy bzw. Fanny Hensel sowie Verzeichnisse der Ortsnamen und Währungen. Die Druckversion erschien im Bärenreiter Verlag (Kassel).