“Self Love” ist der Titel der ersten Anthologie des nepalesischen Kollektivs „Virangana Comics“ (https://viranganacomics.com/books/), welche im Jahr 2019 bei Fine Print Books erschienen ist. In dem hauptsächlich englischen Text finden sich einige nepalesische Einschübe. Die Ausgabe besteht aus acht Geschichten, die von acht nepalesischen Künstlerinnen stammen und sich mit dem Thema “Self-Love” auseinandersetzen.
“Self Love”: Kein Fertigprodukt im Supermarkt
Aber wieso denn eigentlich nicht? Denn das Cover des Hefts zeigt einen Supermarkt mit hohen, gefüllten Regalen. Angebotene Produkte: „You can do it“ (dt. du kannst es schaffen), „Anti-Anxiety – antiseptic Liquid“ (dt. Anti-Angstzustände – eine antiseptische Lösung) und eine neue Handseife, die 100% der Negativität löst. Vor den Regalen stehen Frauen mit vollen Körben und langen Einkaufslisten, doch in den Geschichten des Hefts werden Themen wie Verlust, Abhängigkeit, Mutterschaft und psychische Gesundheit behandelt. Diese zeigen welche harte Arbeit hinter Selbstliebe stehen kann.
Heute im Angebot
Das Virangana-Kollektiv macht es sich zum Ziel, sichere Räume zu schaffen, die der Unterstützung von Comic-Künstlerinnen dienen sollen. Es bietet unter anderem Comic-Workshops für Kinder und Jugendliche an. „Virangana“ ist ein Wort aus dem Nepali. Man kann es im Deutschen mit „Heldin“ übersetzen, „die aufgrund ihrer guten Taten verehrt wird“. Der Name lässt schon darauf schließen, dass der Fokus des Virangana-Kollektivs auf der Selbststärkung von Frauen liegt. Das Kollektiv ist ein Projekt, welches von „Creating Heroines“ initiiert wurde. Dabei handelt es sich um ein internationales Projekt des „British Council“, welches Zines, Cartoons und Filme nutzt, um Geschichten von Frauen zu erzählen.
Der Titel der Anthologie, „Self-Love“, orientiert sich an dem westlichen Konzept „Me Time“ und reflektiert die Erfahrungen der Künstlerinnen vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Anforderungen an Frauen. Der Auftakt der Anthologie, der Comic „Breathe In, Breathe Out“ von Kanchan, bietet den Leser*innen einen guten Einstieg in das Heft. Denn in diesem ersten Comic geht es um die Herausforderungen, den Verlust eines Familienmitglieds zu überwinden. Kanchan betrauert den Tod ihrer an Krebs gestorbenen Mutter und macht sich Vorwürfe, sich nicht besser um sie gekümmert zu haben. Während Ihre Bekannten bekunden, die Trauer würde mit der Zeit vergehen, fällt sie in ein immer tieferes Loch, weshalb ihre Tante und Großmutter zu härteren Mitteln greifen. Kanchan wird vor einen Arzt und sogar einen buddhistischen Gelehrten, einen Lama, gezerrt, bis sie versteht, dass mit der vergehenden Zeit kleine Fortschritte möglich sind.
Eine kleine Kostprobe
Die Künstlerin Kanchan wohnt in Nepals Hauptstadt Kathmandu und arbeitet für ein Design Studio und eine nepalesische Modemarke. Sie erzählt hautsächlich autobiografische Geschichten und wurde allein von ihrer Mutter aufgezogen, deren Tod sie in „Breathe In, Breathe Out“ verarbeitet. Im Rahmen ihrer Masterarbeit beschäftigte sie sich mit der, ihr häufig gestellten Frage „Was macht dein Vater beruflich?“ und versuchte, die unterliegende politische Natur dieser Frage aufzudecken. Es ist also nicht überraschend, dass die Leser*innen in diesem Comic auf eine Hauptperson namens Kanchan treffen, die zudem auch noch in Kathmandu lebt. Das ist unter anderem daran zu erkennen, dass in einem der Bilder des Comics Swayambhu zu sehen, ein buddhistisches Heiligtum in Kathmandu.
Der Buddhismus scheint für Kanchan eine große Rolle zu spielen. Denn auch das auffällige Farbschema in „Breathe In, Breathe Out“ überschneidet sich mit Farben, die hauptsächlich mit Buddhismus assoziiert werden: Rot und Gelb. Es sind die gleichen Farben, die der buddhistische Gelehrte trägt, der Kanchan im Comic durch ihre Trauer helfen soll. Doch auch darüber hinaus haben die beiden Farben auch im nepalesischen Buddhismus eine bestimmte Bedeutung. Rot steht für Innenblick und Gelb für Sympathie. Die Bedeutung der Farben und Kanchans Trauerprozess gehen in dem Comic also Hand in Hand.
„Breathe In, Breathe Out“ ist ein kurzer, liebevoll gestalteter Comic und eignet sich somit gut für einen Moment der Ruhe. Wer sich etwas mehr Zeit nehmen möchte, um den Comic zu erkunden, kommt definitiv auch auf seine Kosten. Es fällt dann vielleicht auf, wie der kritzelige Zeichenstil die Unsicherheit von Kanchan betont oder, dass die Pflanze von Kanchans Mutter zu Beginn des Comics noch eingegangen war und zum Ende Blüten trägt. Auch wenn der Buddhismus im Leben von Kanchan und damit auch in diesem Comic eine wichtige Rolle spielt, benötigen Leser*innen kein Hintergrundwissen über diese Religion.
Auf ihrem Blog hat die Künstlerin zwei Beiträge veröffentlicht, in denen sie beschreibt, wie sie ab und zu immer noch mit dem Tod ihrer Mutter zu kämpfen hat. Unter dem letzten Bild des Comics sind die Worte: „The End“ (dt.: Ende) gedruckt – womit nicht das Ende der Trauergeschichte der Künstlerin gemeint sein wird, sondern das einer besonders herausfordernden Zeit.
Wie viel macht das zusammen?
Die Kunststile der Künstlerinnen sind alle sehr unterschiedlich. Ist der Zeichenstil von Kanchan eher im Doodle-Stil, kann man in Shraddha Shresthas Comic stark den Einfluss von amerikanischen, 90er Jahre Comics sehen, von denen sie sich inspirieren lässt. Ihren Comic prägen schrilles Pink und Orange und verschiedene Schraffuren, wie die flächendeckenden Punkte, die typisch für „Pop Art“ sind. Die verschiedenen Kunststile in „Self Love“ tragen zum Abwechslungsreichtum bei und fordern die Leser*innen heraus, sich immer wieder neu auf die Anthologie einzulassen.
Shraddha Shrestha lässt sich in ihrer Kunst besonders von der Architektur ihrer Heimatstadt Patan inspirieren. Patan grenzt als drittgrößte Stadt Nepals unmittelbar südlich an Kathmandu. In ihrem Comic „The Permission Game“ ist allerdings gar keine Architektur zu sehen. Stattdessen ist er einer von zwei Comics in „Self Love“, der „Erwachseneninhalt“ enthält. In dem Comic werden Alkoholkonsum und Selbstbefriedigung thematisiert. Er ist zusätzlich der Einzige der acht Comics in „Self Love“, der fast ausschließlich in Nepali geschrieben ist und keine Übersetzung (auch nicht als Randnotiz) bietet. Das macht ihn für diejenigen Leser*innen, die die Sprache nicht beherrschen, recht unzugänglich. Anhand der Bilder des Comics ist zwar auch ohne eine Übersetzung erkennbar, worum es geht, doch die Dialoge zwischen der Hauptperson und ihren Eltern sind leider nicht zu verstehen. Auf der anderen Seite ist es allerdings gerade spannend, dass der Comic auf Englisch verfasst ist, wenn sich an die Leser*innen gewandt wird, dann allerdings zu Nepali gewechselt wird, sobald in der Geschichte andere Menschen im Vordergrund stehen. Dadurch wird eine spürbare Barriere gezogen, die die Leser*innen und die Innenwelt der Hauptperson von den Menschen in ihrem Umfeld trennt.
„Take Two“ ist ein Comic mit viel Witz und Zynismus. Preena Shrestha arbeitet als Kommunikations-beauftragte und schreibt Artikel für die Kathmandu Post, eine große Tageszeitung in Nepal. Dem Zeichnen von Comics widmet sie sich eher hobbymäßig. Dennoch schafft sie es mit einer gewissen Leichtigkeit, über Selbstschutzmechanismen und Selbstzweifel zu reden und trotzdem die Ernsthaftigkeit und Schwierigkeit derer zu verdeutlichen. In dem Comic wird angesprochen, wie die Verhaltensmuster eines Elternteils auf ihre Kinder abfärben können. Im Comic passiert das zwischen der Hauptfigur und ihrer Mutter. Der niedliche, kritzelige Zeichenstil lässt Leser*innen schnell in den Comic eintauchen und mit den Figuren mitfühlen.
Rashmi Lamichhane verwendet für die Arbeit an Comics und Illustrationen liebend gerne Wasserfarben, hat in diesem allerdings darauf verzichtet. „Getting to today“ ist im Vergleich zu den anderen Comics in der Anthologie sehr realitätsnah gezeichnet. Der Comic schafft es, „Zeit“ auch auf eine besondere Art und Weise darzustellen. Gleich mit dem ersten Bild wird zum Beispiel ein gesamter Tag dargestellt. Dadurch wird der Eindruck eines kleinen Wimmelbilds erzeugt. Ein lustiges Detail für die deutschen Leser*innen findet sich auch im Comic: Rashmi Lamichhane arbeitet nämlich bei der Deutschen Bahn und so sieht man sie in ihrem Comic aus einer DB-Bahn steigen. Der Name ihrer Station lautet nicht
„Main Station“, wie man es vielleicht von einem englischsprachigen Comic erwartet hätte, sondern „Hauptbahnhof“.
Ab der zweiten Hälfte der Anthologie fällt es zunehmend schwer, die Comics, auch als Comics zu bezeichnen. Die Künstlerinnen haben sich für verschiedene, kreative Möglichkeiten der Geschichtserzählung entschieden. Die Geschichten unterscheiden sich allerdings nichts nur im Kunststil von der ersten Hälfte des Comichefts, sondern vor allem in der Auseinandersetzung mit Self Love. Es wird zum Beispiel ein großer Schwerpunkt daraufgelegt, Zeit für sich selbst zu nehmen.
So vor allem in „Self Love“ von Promina Shrestha. Sie ist Illustratorin, Grafik-Designerin und Kunstforscherin mit einem Fokus auf Inklusion und Diversität in der Bildung. In ihrer Geschichte gibt es zum Beispiel keinen Dialog, stattdessen wird ein langer Schal gestrickt, auf dem ein ebenso langer Gedankenstrom geschrieben steht. Die Künstlerin schenkt dem Stricken, durch Nahaufnahmen von Emotionen und einzelnen Handlungen, besondere Aufmerksamkeit und zeigt damit, wie wichtig es ist auch manchmal nur Zeit mit sich selbst zu verbringen.
Wer den Ausdruck „Jeder hat sein eigenes Päckchen zu tragen“ kennt, kann diesen gut auf den anschließenden Comic „Baggage“ anwenden. Denn hier geht es um die Beutelchen gefüllt mit Unsicherheit, die sich an die Hauptfigur anhaften und von der einen Situation zur nächsten vermehren. Die Künstlerin Ujala Shrestha nutzt gern Fotografien, Malerei, Illustrationen und Design, um ihr persönliches Erleben zu verarbeiten. Die künstlerische Präferenz lässt sich auch in „Baggage“ erkennen, welcher auch ein wenig an Schablonen
erinnert. Der Comic kommt auch ohne gesprochene Sprache aus, erzählt die Geschichte mithilfe der Bilder dennoch sehr nachvollziehbar. Durch den fehlenden Text und die Länge von zwei Seiten ist das Ende der Geschichte schnell erreicht. Es lohnt sich dennoch, einen zweiten Blick auf die Bilder zu werfen. Zum Beispiel wird das Haar der Hauptfigur vom ersten bis zum letzten Bild im Comic immer länger. Auch trägt sie zu den verschiedenen Ereignissen in ihrem Leben jeweils unterschiedliche Kleidung.
„Do You Masturbate” ist kein Comic. Hier handelt es sich eher um eine Illustration, die mit einem Gedicht geschmückt ist und einem Wochenplan, der zum täglichen Masturbieren aufzurufen scheint. Die Geschichte ist im Inhaltsverzeichnis des Comichefts als Erwachseneninhalt markiert, die Zeichnungen sind allerdings zu abstrakt und liebevoll gezeichnet, als dass sie als anstößig gelten können. Michelle LL beschäftigt sich in ihrer Kunst vor allem mit der Frage nach Identität, die aus ihrem eigenen multinationalen Hintergrund gewachsen ist. Ihre Illustration zeigt das „Queendom“ (dt.: Königinnenreich), ein Zimmer, das mit vielen persönlichen Gegenständen gefüllt ist. „Do You Masturbate“ fällt, mit einer einzigen Illustration von einem Gedicht begleitet, fehlendem Dialog und fehlender Handlungsabfolge und einer nicht-sichtbaren Hauptfigur definitiv aus der Reihe von „Self Love“. Die persönlichen Gegenstände und Bilder, die sich in dem „Queendom“ finden, erzählen dennoch eine Geschichte, die sich auch unabhängig von dem Gedicht verstehen lässt. Wer also zu diesem Comicheft gegriffen hat, um abzuschalten und um die Tage des Grammatikunterrichts und der Bestimmung eines Versmaßes hinter sich zu lassen, braucht sich nicht zu sorgen. Wer jedoch genau nach einem solchen Werk sucht, wird hier genauso fündig.
Die letzte Geschichte in „Self Love“ stammt von der Illustratorin Bandana Tulachan, welche Mitbegründerin von „Virangana Comics“ ist. Der Zeichenstil in ihrem Comic „To Love“ ist sehr zart und romantisch. Er bringt durch die schraffierten Hintergründe viel Bewegung in die Bilder des Comics. Auch hier gibt es erneut keinen Dialog, sondern einen begleitenden Text, der die Bilder viel für sich sprechen lässt. Der Comic arbeitet mit einem fließenden Farbübergang von dunkel zu hell, der den Leser*innen einen warmen Rahmen setzt und somit das Comicheft ruhig ausklingen lässt.
Behalten Sie das Wechselgeld
„Self Love“ ist eine Sammlung spannender Kunststile und persönlicher Geschichten. Bei jedem einzelnen Comic handelt es sich nicht nur um soziale Kritik, sondern vor allem um die Möglichkeit, eine Verbindung zu den Erfahrungen von anderen Frauen aufzubauen. Jede Künstlerin hat eine eigene besondere Herangehensweise an das Thema der Anthologie, sodass viele wichtige Themen in dieses Comicheft Einzug erhalten haben. Der nepalesische Hintergrund aller Künstlerinnen wird in den Comics durch Details, wie Sprache, Religion, Kleidung oder Gewohnheiten deutlich. Die in den Comics angesprochenen Themen sind allerdings universell verständlich. Auch wenn Nepalesisch in den Comics verwendet wird, finden sich in allen, bis auf „The Permission Game“ englische Übersetzungen. Die Themen, die in den Comics angesprochen werden, können auch schwer auf den Leser*innen wiegen, doch die Vermittlung dieser gelingt den Künstlerinnen mit Leichtigkeit. Bei der genauen Lektüre der Comics erschließen sich viele Details, die das erneute Lesen der Anthologie immer wieder lohnend machen. Wer also Lust hat, einige neue Zutaten auf die eigene Einkaufsliste für eine große Portion „Self Love“ zu schreiben, sollte seine*ihre Einkaufsliste definitiv um die Anthologie „Self Love“ erweitern.